Wie das MediaTech Hub Start-up Vertical52 Satellitendaten für den Journalismus nutzt
Sie sind für Satelliten-TV, Navigationsgeräte, Wettervorhersagen und natürlich Militär nicht mehr wegzudenken: Im All kreisen mehr als 5.500 Satelliten um die Erde – darunter etwa 500 Erdbeobachtungssatelliten. Weltraumagenturen wie die ESA oder Satellitenbetreiber wie Planet Labs oder Maxar Technologies nehmen jeden Fleck der Erde auf – Bilder, die für journalistische Recherchen sehr wertvoll sein können. Aus dem All lassen sich zum Beispiel landwirtschaftliche oder militärische Entwicklungen verfolgen oder ganze Landstriche über einen längeren Zeitraum dokumentieren. Die Aufnahmen sind inzwischen auch so detailliert erhältlich, dass man darauf einen Menschen erkennen könnte.
Das Startup Vertical52 versteht sich als erste Nachrichtenagentur aus dem All und macht hochauflösende, kommerzielle Satellitendaten Journalist:innen, Publishern und NGOs zugänglich. Dafür entwickeln die beiden Gründer, der Journalist Marcus Pfeil und der Unternehmer Michael Anthony, eine Plattform, die Satelliten- und Radardaten auffindbar macht, auswertet und visualisiert.
Marcus Pfeil arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Journalist und hat preisgekrönte Rechercheprojekte verantwortet. Michael Anthony, ursprünglich ebenfalls Journalist, war zuletzt im Mikroversicherungsgeschäft tätig und befasste sich bei Agrarprojekten in Afrika und Asien mit Fernerkundung. Ihr Geschäftsmodell basiert auf zwei Säulen. Zum einen sind sie in der Lage, innerhalb eines Tages hochauflösende Bilder aus dem All zur Verfügung zu stellen. Zum anderen führt das Team selbst komplexe Analysen und investigative Recherchen durch.
Weltraumgestützte Daten
Der Satellitenjournalismus steht noch ganz am Anfang, aber mit dem verbesserten Zugang zu Daten wird diese Form der forensischen Beweisführung immer wichtiger. So konnte man zu Beginn des Ukraine-Kriegs die russischen Militärkonvois in Echtzeit nachverfolgen. Und die New York Times zeigte mit einer Recherche, dass die Massaker an der Bevölkerung Butchas auf das russische Militär zurückgingen. Auf Satellitenbildern identifizierte man die Leichen ukrainischer Zivilisten auf den Straßen. Sie lagen dort schon während der russischen Besatzungszeit. Nicht nur Kriegsverbrechen, auch Naturphänomene wie Überschwemmungen, Entwaldung und die voranschreitende Trockenheit der Wälder zeigen sich so aus einer anderen Perspektive.
Viele solcher Daten sind über Agenturen und Anbieter theoretisch frei zugänglich, aber in der Praxis nicht für jede:n verständlich anzuwenden. Die Vertical52-Plattform bearbeitet Bildanfragen automatisch. Man verstehe sich als Kurator, so Co-Founder Marcus Pfeil. „Mit den Satellitendaten lässt sich auch in die Zukunft schauen. Wenn man über einen längeren Zeitraum etwas beobachten möchte, können wir ein Tasking einrichten – etwa ein Warenlager von Amazon alle 14 Tage observieren.“, so Pfeil.
Recherche von Oben: Zwangsarbeit in der Baumwollproduktion
Für eine Reportage zu Baumwolle und Zwangsarbeit unterstützte Vertical52 zum Beispiel den NDR. Am Anfang stand die Vermutung, dass die Baumwolle auf den Feldern Xinjiangs von uigurischen Zwangsarbeiter:innen per Hand geerntet wird – und nicht von Maschinen, wie die chinesische Regierung behauptet. Aus der Region in Westchina stammt ein Großteil der exportierten chinesischen Baumwolle. Gleichzeitig sind dort besonders viele der Arbeitslager angesiedelt, in denen ethischen Minderheiten wie die Uiguren unterdrückt werden. Vertical52 glich die Aufnahmen der Baumwollfelder mit Referenzobjekten in Kirgisistan ab und orientierte sich an den Fruchtfolgen: Wie sieht Baumwolle von oben aus? Wann blüht sie? Wann wird sie geerntet? Zusätzlich nutzte man den White Wall Index, einen Index aus der Landwirtschaft. In den Aufnahmen des westchinesischen Gebietes ließen sich so die Baumwollfelder eindeutig bestimmen – und im nächsten Schritt anhand der Oberflächenstruktur die von Hand geernteten Felder von den mit Maschinen geernteten Felder unterscheiden. Eine Methode, die man auf große Flächen skalieren könne, so Pfeil. „Wenn ein Recherchefeld für uns Neuland ist, suchen wir uns eine wissenschaftliche Beratung, um sicher zu gehen, dass wir sauber, korrekt und valide auswerten.“, sagt er. Die Datenlage der Recherche bewies hier: Etwa 96 Prozent der Baumwollproduktion in der Region basiert auf Ernte per Hand. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir in Deutschland ein T-Shirt tragen, dass mit der Baumwolle aus Zwangsarbeit produziert wurde, ist also sehr hoch.
Die Bilddaten sind auch für NGOs ein wichtiges Recherchetool. Zusammen mit Terre des Hommes untersuchte Vertical52 das Ausmaß von Kinderarbeit in illegalen Glimmer-Minen Indiens. In stillgelegten, illegal betrieben und damit ungesicherten Minen graben bereits Vierjährige nach dem begehrten Material – und werden oft verschüttet. Auf Basis von Satelliten- und Radardaten machte man sichtbar, wie die angeblich stillgelegten Minen in Jharkhand in Ostindien über die Jahre wuchsen.
Perspektivisch plant Vertical52 eine dritte Säule: Ein stiftungsbasiertes Fellowship-Programm soll Journalist:innen in Ländern mit eingeschränkter Pressefreiheit durch Zuarbeit und Wissensvermittlung unterstützen. Auch kleinere Lokalredaktionen mit begrenztem Budget könnten dadurch einen Zugang zu satellitendatenbasieren Recherche bekommen. Denn die hochauflösenden Bilder aus dem All brauchen erfahrene Übersetzende, die daraus die Geschichten wieder auf die Erde bringen.
Demnächst ist Vertical52 offiziell Teil des MediaTech Hubs. Im Vorfeld wurden sie für das Media Founders Programm des MIZ Babelsberg ausgewählt, das in Zusammenarbeit mit dem MTH Accelerator durchgeführt wird.
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