Stressfaktoren und die Frage nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Es kann zu einer Herausforderung werden, stets die Waage ausgeglichen zu halten zwischen Berufsleben, Paarbeziehung, Alltag und der Zeit für sich selbst. Und meistens läuft es eher so ab, dass mindestens einer dieser Punkte vernachlässigt wird, schlimmstenfalls leiden sogar alle Bereiche. Und sobald Kinder hinzukommen, kann sich dieses Ungleichgewicht noch einmal verschärfen.
In der “TK-Stressstudie”, welche von der Techniker Krankenkasse (TK) 2021 veröffentlicht wurde, stellt der Beruf etwa den Hauptfaktor für Stress dar. Und jede:r dritte Befragte, insgesamt etwa 29 Prozent, hatte das Gefühl, durch den Beruf die Familie und den Freundeskreis zu vernachlässigen. Obwohl die Zahl im Vergleich zu den Vorjahren etwas gesunken ist (2013 gaben etwa 34 Prozent der Befragten an, dass wegen beruflicher Verpflichtungen Familie und Freund:innen zu kurz kämen, 2016 waren es sogar 39 Prozent), lag dieser Stressfaktor auch 2021 wieder auf dem ersten Platz. In der Attraktivitätsstudie “Familienfreundliche Arbeitgeber” aus dem Jahr 2024, welche vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Auftrag gegeben wurde, kam heraus, dass sich “[m]ehr als die Hälfte der befragten Beschäftigten mit familiärer Verantwortung” dadurch “eher bis überaus herausgefordert” sieht, wenn es darum geht, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren.
Die Ergebnisse zeigen also, dass es speziell für berufstätige Paare mit Kindern zu einer Belastung oder sogar zu einer Zerreißprobe werden kann, die verschiedenen Bereiche Beruf, Alltag, Paarbeziehung und Familie unter einen Hut zu bekommen. Aber wie kann es diesen Paaren gelingen, nicht nur die Organisation des Berufs- und Familienalltags zu meistern, sondern auch die Beziehung zueinander nicht aus den Augen zu verlieren?
Eine App, um Beruf mit Familie und Paarbeziehung unter einen Hut zu bekommen – gleichberechtigt, fair, ‘kindr.’
Eine mögliche Antwort auf diese Frage liefert das Berliner Start-up kindr. – die “kindr-App”. Das Team rund um die beiden Gründerinnen Dr. Johanna Ickert und Susanne Richter hat eine App entwickelt, welche Eltern dabei unterstützen soll, die Herausforderungen der Kindererziehung und des beruflichen Alltags gemeinsam anzugehen.
Dr. Johanna Ickert ist eine visuelle Anthropologin sowie Regisseurin und Editorin. Susanne Richter ist Diplom-Psychologin, Medienpädagogin und hat ebenfalls viel im Bereich der Filmproduktion gearbeitet. Gemeinsam haben sie bereits 2018 mit LIBRA Film eine Produktionsfirma für Film und digitale Medien gegründet.
Die Idee für kindr. hatten die beiden schon länger. Aber als sie 2023 dafür ein EXIST-Stipendium mit Unterstützung des Gründungsservices der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF erhalten haben, ging es erst so richtig los. Damals hatte die App jedoch noch einen anderen Namen.
Komplettiert wird das Gründungsteam durch Fatih Girisken, welcher als Tech Lead und Entwickler seine Kompetenzen mit einbringt. 2024 Jahr wurde das Team schließlich als einer der Kultur- und Kreativpilot*innen Deutschland ausgezeichnet. Seit Oktober letzten Jahres ist kindr. Teil der zweiten Kohorte im Investment Readiness Program des MediaTech Hub Accelerators.
Als berufstätige Mütter wissen Dr. Johanna Ickert und Susanne Richter nur allzu gut, was es bedeutet, Partnerschaft, Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen, dabei aber auch die eigene Autonomie nicht zu vergessen. “Wir wollen Eltern ermutigen, Familie als gemeinsames Projekt zu denken – mit Zeit für sich, füreinander, für die Beziehung”, erklärt Dr. Johanna Ickert die Gründe hinter der Entwicklung ihrer App. Und Susanne Richter ergänzt: “Unser Ziel ist Empowerment – damit Eltern nicht um freie Zeit streiten müssen, sondern sie sich gegenseitig ermöglichen.”
Dabei verstehen die beiden Gründerinnen die kindr-App aber nicht nur als Tool, sondern eben auch als eine Art “Wegweiser zu einer progressiven Elternschaft”, wie Dr. Johanna Ickert erklärt. Dahinter steht im Grunde genommen also eine durchaus politische und aktuell viel diskutierte Frage, nämlich danach, wie Care-Arbeit gleichberechtigt und fair verteilt werden kann.
Dabei geht es den beiden Gründerinnen um “mehr Verständigung”, damit gemeint ist mehr Freundlichkeit im Umgang miteinander, aber auch zu sich selbst. Sprich, “‘kinder’, also gütiger zu sein”. Das ist dann auch das Motto der App: “‘kinder’ mit kindr. und Kindern.”
Projektmanagement meets Impulse aus der Paartherapie
“Familien sind bereits unglaubliche Projektmanager!”, stellen Dr. Johanna Ickert und Susanne Richter fest. So kam auch die Idee zustande, “agiles Projektmanagement mit Impulsen aus der Paartherapie” zu verbinden. Es werden also agile Methoden aus dem Projektmanagement, wie zum Beispiel Scrum, genutzt und auf Familien zugeschnitten.
Das Zentrum der App bildet ein Wochenplan mit Tracking-Feature. Dies soll Paare dabei unterstützen, “ganz bewusst Me-Time, Paarzeit und Familienzeit in den Alltag zu integrieren“.
Kombiniert wird das Ganze mit Insights aus der Paartherapie. Dadurch soll die Paarbeziehung gestärkt werden. Zwar bezeichnen Dr. Johanna Ickert und Susanne Richter ihre Strategie als “Paartherapie durch die Hintertür”, allerdings betonen sie auch, dass sie ihre App nicht als Alternative zur klassischen Paartherapie betrachten. Viel eher soll ihre App davor ansetzen, etwa indem bereits bestehende oder sich anbahnende Konflikte durch die Nutzung der App abgefangen werden können, oder aber ergänzend zur Paartherapie zum Einsatz kommen.
Warum eine App?
Aber warum eigentlich eine App? Sind berufstätige Paare mit Kindern nicht ohnehin schon einem Mental Overload ausgesetzt? Besteht hier nicht noch zusätzlich die Gefahr eines Digital Overloads durch weitere Zeit am Bildschirm? “Genau das war uns super wichtig!”, so Dr. Johanna Ickert. “kindr. soll nicht noch mehr Bildschirmzeit bringen – im Gegenteil. Wir verlagern die nervige Orga ins Digitale, damit im echten Leben wieder mehr Platz ist für echte Gespräche.” Und Susanne Richter führt aus, dass das Team eben keine App entwickeln wolle, die den Eltern noch weiteren Druck und Stress beschert. Ihre Idee sei es, eine App anzubieten, “die Klarheit schafft, Konflikte früh abfängt – und Paare stärkt, bevor es kracht.” Das digitale Gerät in der Hosentasche also eher als ein Begleiter, der unterstützt und nicht belastet.
Damit das funktioniert, muss die App an die Bedarfe der Paare angepasst werden – und zwar individuell. Was ist dem Paar besonders wichtig? Wo ist Unterstützung gewünscht? Geht es um eine gerechtere Verteilung der Care-Arbeit? Oder um die Reduktion von Stress? Oder stehen konkrete Konflikte in der Partnerschaft im Raum, die es zu klären gilt?
All diese Fragen haben sich die beiden Gründerinnen vorab gestellt, so dass sie gemeinsam mit ihrem Team eine App entwickeln können, die wirklich gezielt auf die jeweiligen Bedarfe der Paare angepasst werden kann. Mit Hilfe eines ausführlichen Onboardings wird einerseits die Nutzung der App erleichtert, zugleich können die Paare aber auch ihre individuellen Schwerpunkte auswählen und Ziele festlegen.
Zudem kommt KI zum Einsatz, um die Nutzung noch individueller zu gestalten und die Kommunikation zwischen den Partner:innen zu fördern. So können beispielsweise Tracking-Daten durch die Algorithmen ausgewertet werden, um dann “auf Wunsch kleine Gesprächsimpulse” generieren zu lassen, “die zum Nachdenken oder Reden anreden können”.
Neben der individuellen Anwendung findet aber auch Nutzer:innenfreundlichkeit große Beachtung bei der Entwicklung der App: “Durch starkes UX Design ist das Ganze sehr anschaulich und nachvollziehbar und macht tatsächlich auch Spaß”, so die Gründerinnen.
Nach dem Prototyp ist vor der Weiterentwicklung
Der Weg zur aktuellen Version der kindr-App war allerdings lang und mit einigen Umwegen gesäumt. So bestand die ursprüngliche Idee beispielsweise darin, Videotagebücher aufzunehmen sowie Fotoübungen und emotionale Challenges durchzuführen. Bei den ersten Tests mit Nutzer:innen wurde jedoch klar: “Es geht vielmehr um praktische Alltagsorganisation”, wie Susanne Richter erklärt. Und Dr. Johanna Ickert berichtet von vielen Gesprächen miteinander, aber auch mit anderen Eltern, woraufhin sie “Prototypen getestet und mit dem Team iterativ weiterentwickelt” haben.
Ein wertvolles Learning war außerdem, dass die Entwicklung von Apps anders funktioniert, als die Filmproduktion. Denn während man im Filmbereich “erst dann etwas zeigt, wenn es ‘perfekt’ ist”, funktioniere die App-Entwicklung “genau andersherum: Man geht mit rohen, unperfekten Prototypen raus, testet, verwirft, baut neu. Und das fiel uns schwer”, führt Susanne Richter hierzu aus.
Aktuell befindet sich die App in der Testphase. Dafür wird Feedback von den Nutzer:innen eingesammelt, um die App stetig weiterzuentwickeln. Gleichzeitig werden Gespräche etwa mit Familienzentren und Beratungsstellen geführt, die ebenfalls bei der Arbeit an der App Berücksichtigung finden.
Der Launch ist für Ende 2025 angesetzt. Bis dahin arbeite das Team auch an strategischen Partnerschaften, beispielsweise mit Krankenkassen. In Zukunft könne sich das Team auch einen internationalen Rollout vorstellen, in der gesamten DACH-Region oder auch auf dem englischsprachigen Markt. Eine B2B-Variante sei ebenfalls denkbar, etwa für Unternehmen im Bereich Corporate Health. Bis es soweit ist, will das Team jedoch nichts überstürzen. Zunächst gilt es, den “Product Market Fit” in der nächsten Testrunde zu beweisen.
Wer auf dem aktuellen Stand bleiben und erfahren möchte, wie es mit kindr. weiter geht, kann sich hier für den Newsletter anmelden. Zudem können sich interessierte Paare mit Kindern noch für die Testphase anmelden. Die Anmeldung für den Newsletter sowie alle Informationen dazu, Test-User:innen zu werden, sind auf der Website von kindr. zu finden.
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